Lexikon der Ernährung: Bulimia nervosa
Bulimia nervosa, Ess-Brech-Sucht, Bulimarexie, Ebulimia nervosa, oft nicht ganz präzise auch Bulimie (von gr. bous, Ochse, Stier und limos, Hunger, also „Ochenshunger“), Heißhunger, psychogene Essstörung, die durch wiederholte Episoden von Essanfällen und unangemessene, einer Gewichtszunahme entgegensteuernde Maßnahmen (diese unterbleiben bei der Ess-Sucht [Ebinge eating disorder]) gekennzeichnet ist. Üblicherweise werden während eines Essanfalls hochkalorische Nahrungsmittel mit weicher, leicht zu kauender Konsistenz (z. B. Eis, Kuchen) aufgenommen, die Energiezufuhr während eines Essanfalls liegt in der Regel zwischen 1.000 und 10.000 kcal. 99 % der Erkrankten sind Frauen, der Häufigkeitsgipfel liegt bei 18–20 Jahren. Etwa 2,5 % der weiblichen Bevölkerung im Alter von 18–35 Jahren sind betroffen. Bei etwa der Hälfte der Betroffenen entsteht die B. n. infolge einer Anorexia nervosa. Das Körpergewicht von Bulimikern liegt meist im Normbereich.
80–90 % der Erkrankten verhindern eine Gewichtszunahme durch Erbrechen oder Abführmittelmissbrauch, Diuretika u. a. (Purging-Typ, nasse Bulimie), weit seltener ist der Non-Purging-Typ (trockene Bulimie), bei dem der Gewichtszunahme durch übermäßige körperliche Betätigung oder Fasten entgegengesteuert wird.
Im Gegensatz zur Anorexia nervosa besteht bei Bulimikern ein ausgeprägtes Krankheitsbewusstsein, das mit Schamgefühlen und Ekel verbunden ist, weswegen die Krankheit in der Regel verheimlicht wird.
Die Diagnose erfolgt nach den Leitlinien nach DSM-IV bzw. ICD-10 (Tab.).
Körperliche Folgen der B. n. entstehen aufgrund von Mangelernährung und dem bulimischen Verhalten selbst. Durch Elektrolytstörungen (Hypokaliämie, Hyponatriämie, Hypochlorämie) infolge von Erbrechen und Laxanzien- bzw. Diuretikamissbrauch kann es zu Reizleitungsstörungen bis hin zum Herzstillstand sowie zu Störungen der Nierenfunktion kommen. Der häufige Verlust von Magensäure führt zur metabolischen Alkalose, Laxanzienabusus kann dagegen zur metabolischen Acidose führen. Weitere Folgen sind die Zerstörung des Zahnschmelzes (Bulimie-assoziierte Zahnfäule) und Entzündung von Speiseröhre und Speicheldrüsen sowie, bei Laxanzienmissbrauch, Verdauungsstörungen. In einzelnen Fällen wurden Magenatonien (Magenlähmung) und Magenrupturen (Risse in der Magenwand) beschrieben. Charakteristisch sind weiterhin Schürfwunden auf dem Handrücken, die durch selbstinduziertes Erbrechen (mit der Hand im Rachenraum) entstehen. Die hormonellen Störungen entsprechen denen der Anorexia nervosa (Zyklusstörungen, Insulinresistenz, Osteoporose), sind jedoch weniger stark ausgeprägt. Etwa die Hälfte der Bulimikerinnen leiden unter Amenorrhö (Ausbleiben der Menstruation).
Die Krankheitsentstehung der B. n. ist noch nicht vollständig geklärt (Essay: Essstörungen). In der Psychoanalyse wird sie mit der Fixierung auf die orale Entwicklungsphase erklärt. In dieser Phase werden grundlegende Beziehungen zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen aufgebaut. Mangelnde Zuwendung aber auch eine zu feste Bindung können zu Störungen führen. Eine orale Fixierung wird gefördert, wenn Mütter die oralen Bedürfnisse des Kindes abwehren, weil sie selbst ihren oralen Wünschen oder den Bedürfnissen des Kindes ambivalent gegenüber stehen. Diese Theorie kann die Entstehung der B. n. allerdings nicht alleine erklären. Heute wird die Krankheitsentstehung als multifaktorieller Prozess angesehen. Soziokulturelle Faktoren, z. B. das gängige Schlankheitsideal oder negative Einstellungen gegenüber übergewichtigen Menschen können zur Überbewertung des Körpergewichtes führen. Die Gewichtsabnahme und Schlankheit werden dann zur wichtigen Quelle für das Selbstwertgefühl. Das resultierende gezügelte Essverhalten, z. B. Fasten oder Diäten, stellt einen wichtigen Risikofaktor für die Entstehung der B.n. dar. Dabei kann als biologischer Faktor ein geringer Energiebedarf das Problem verstärken, da die betroffene Person trotz normaler Nahrungsaufnahme zu einem höheren Körpergewicht neigt, und entsprechend eine schlanke Figur nur mit Gewichtskontrolle erreichen kann. Das familiäre Umfeld kann die Krankheitsentstehung ebenfalls begünstigen (z. B. Unterdrückung der Autonomie und Individualität des Kindes, Konfliktvermeidung und -verleugnung). Auch Lernerfahrungen können eine entscheidende Rolle in der Krankheitsentstehung spielen. Wenn Kinder mit Süßigkeiten getröstet werden, besteht die Gefahr, dass sie Essen zur Problemlösung einsetzen, besonders, wenn sie keine adäquaten Lösungsstrategien gelernt haben. Auch die externe Regulation der Nahungszufuhr (z. B. essen zu bestimmten Uhrzeiten, Teller leer essen, oder essen, „was auf den Tisch kommt“) kann dazu führen, dass normales Hunger-Sättigungsverhalten verlernt wird. Häufig wird die Krankheit letztendlich durch ein belastendes Ereignis ausgelöst, z. B. Tod eines Angehörigen, besondere Leistungssituation etc.
Bei der B. n. liegt oft eine psychiatrische Komorbidität vor. Bei etwa der Hälfte der Patientinnen treten vor oder im Verlauf der Erkrankung depressive Störungen auf. Angststörungen (v. a. soziale Phobien und Platzangst) wurden ebenfalls bei etwa 50 % der Bulimikerinnen gefunden. Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeiten (v. a. Alkohol und Stimulanzien) liegt bei einem Drittel der Erkrankten vor. Auch Persönlichkeitsstörungen, v. a. das Borderline-Syndrom sind bei B. n. häufig. Eine somatische Komorbidität liegt mit Diabetes mellitus Typ 1 vor. 5–25 % der Typ-1-Diabetiker entwickeln im Laufe der Erkrankung eine B. n. Als Maßnahme zur Vermeidung einer Gewichtszunahme nach einem Heißhungeranfall wird häufig die Insulindosis verringert, um dadurch den renalen Verlust von Glucose zu steigern.
Die Therapie der B. n. erfolgt meist multimodal. Sie kann ambulant oder stationär durchgeführt werden. Eine stationäre Behandlung ist bei starken körperlichen Komplikationen (z. B. ausgeprägte Elektrolytstörung), hoher Frequenz an Essanfällen, Komorbidität sowie bei schwierigem sozialem Umfeld indiziert. Die Therapie besteht in der kurzfristigen Verbesserung des Essverhaltens und langfristigen Behandlung der tieferliegenden Ursachen. Die Normalisierung des Essverhaltens dient nicht nur der Behandlung körperlicher Auswirkungen der Bulimie, sondern vor allem der Unterbrechung des bulimischen Teufelskreises, der die Krankheit aufrecht erhält. Zur langfristigen Behandlung werden verschiedene Therapieformen eingesetzt:
Gut bewährt hat sich die kognitive Verhaltenstherapie. Ihre zentrale Aufgabe besteht darin, dysfunktionale Denkstrukturen in Bezug auf die Nahrungszufuhr oder Körperform zu erkennen und zu überwinden. Alternative Problemlösungsmöglichkeiten werden erlernt und auslösende Faktoren des bulimischen Essverhaltens untersucht und gemieden (Reizkontrolle) bzw. ein angemessener Umgang mit diesen Situationen erlernt. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Verbesserung der Körperwahrnehmung. Bei der systemischen Therapie ist das Ziel, familiäre Interaktionsmuster zu verbessern und so der Familie den Umgang mit dem Patienten zu erleichtern und dem Bulimiker eigenverantwortliches Handeln zu ermöglichen. Das Aufdecken aufrechterhaltender Faktoren, Kommunikationstraining und Konfliktbewältigung stehen im Mittelpunkt der Therapie. Eine psychodynamische Therapie dient zur Bewältigung des zugrunde liegenden unbewussten Konfliktes bzw. der Entwicklungsstörung und ist vor allem bei Vorliegen weiterer psychischer Störungen empfehlenswert. Die medikamentöse Therapie ist von untergeordneter Bedeutung und sollte generell nur zusätzlich zur Ernährungsberatung und Psychotherapie erfolgen. Sie beschränkt sich i. d. R. auf den Einsatz von Antidepressiva bei depressiver Komorbidität.
Über die Prognose der B. n. ist erst wenig bekannt, da sie erst seit 1980 als eigenständige Krankheit anerkannt wird. Die Essstörung besteht im Durchschnitt bereits 5 Jahre, bevor Patienten sich in Behandlung begeben. Nach stationären Therapien wurde bei 60 % der Patienten eine Verbesserung beobachtet, bei 40 % blieb die Behandlung erfolglos.
Bulimia nervosa: Tab. Diagnostische Kriterien nach ICD-10 und DSM-IV.
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1.Eine andauernde Beschäftigung mit Essen, eine unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln; die Patientin erliegt Essattacken, bei denen große Mengen Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert werden. 2.Die Patientin versucht, dem dickmachenden Effekt der Nahrung durch verschiedene Verhaltensweisen entgegenzusteuern: selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, zeitweilige Hungerperioden, Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika. Wenn die Bulimie bei Diabetikerinnen auftritt, kann es zu einer Vernachlässigung der Insulinbehandlung kommen. 3.Eine der wesentlichen psychopathologischen Auffälligkeiten besteht in der krankhaften Furcht davor, dick zu werden; die Patientin setzt sich eine scharf definierte Gewichtsgrenze, deutlich unter dem prämorbiden, vom Arzt als optimal oder "gesund" betrachteten Gewicht. Häufig lässt sich in der Vorgeschichte mit einem Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren eine Episode einer Anorexia nervosa nachweisen. Diese frühere Episode kann voll ausgeprägt gewesen sein, oder war eine verdeckte Form mit mäßigem Gewichtsverlust oder einer vorübergehenden Amenorrhö. | A. Wiederholte Episoden von „Fressattacken”. Eine „Fressattacken”-Episode ist gekennzeichnet durch beide der folgenden Merkmale: (1) Verzehr einer Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeitraum (z. B. innerhalb eines Zeitraumes von 2 h), wobei diese Nahrungsmenge erheblich größer ist, als die Menge, die die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum und unter vergleichbaren Bedingungen essen würden. (2) Das Gefühl, während der Episode die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren (z. B. das Gefühl, weder mit dem Essen aufhören zu können, noch Kontrolle über Art und Menge der Nahrung zu haben). B. Wiederholte Anwendung von unangemessenen, einer Gewichtszunahme gegensteuernden Maßnahmen, wie z. B. selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Laxanzien, Diuretika, Klistieren oder anderen Arzneimitteln, Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung. C. Die „Fressattacken” und das unangemessene Kompensationsverhalten kommen drei Monate lang im Durchschnitt mindestens zweimal pro Woche vor. D. Figur und Körpergewicht haben einen übermäßigen Einfluss auf die Selbstachtung. E. Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf von Episoden einer Anorexia nervosa auf. „Purging”-Typus: „Nicht-Purging”-Typus: Die Person hat während der aktuellen Episode der B. n. andere unangemessene, der Gewichtszunahme gegensteuernde Maßnahmen gezeigt wie beispielsweise Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung, hat aber nicht regelmäßig Erbrechen induziert oder Laxanzien, Diuretika oder Klistiere missbraucht. |
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